21 Gramm kritiken / kino
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Der Schlüssel des Films liegt am Ende – oder auch schon im Trailer, der voller Andeutungen steckt: „Es heißt, wir verlieren 21 Gramm, wenn wir sterben“, sagt eine Stimme aus dem Off. „Aber wann verlieren wir die 21 Gramm? Und wie viel gewinnen wir?“ Die Stimme aus dem Off spricht weiter, während der Mann, dessen Gedanken man hört, an Schläuchen in der Intensivstation liegt und um sein Leben kämpft. „21 Gramm“ ist ein Film über den Tod, über das bewusste Leben und Sterben und unseren Umgang damit. Aber er ist verpackt in einen intellektuellen Thriller, in dem die Zeit mal vorwärts, mal rückwärts läuft wie in „Pulp Fiction“ (fd 31 041), in dem die Beziehungen der Personen zueinander erst spät klar werden wie in „Short Cuts“(fd 30 588), und er ist ein Film, in dem einige Rätsel ungelöst bleiben wie in „Mulholland Drive“ (fd 35 220). Wie schon in seinem furiosen Erstling „Amores perros“ (fd 35 104) verschränkt der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu (Jahrg. 1963) auch bei seinem zweiten Spielfilm drei Erzählstränge – für jede Hauptfigur einen. Am Anfang sind es sogar vier: Zuerst sieht man Paul nackt mit einer Frau im Bett, dann Michael, den Familienvater, mit seinen zwei kleinen Töchtern im Restaurant, danach Cristina in einer Therapiegruppe, zuletzt Jack mit einem Kumpel in einem schäbigen Aufenthaltsraum. Aber Michael und die Mädchen werden überfahren und bringen dadurch erst die anderen Figuren zusammen.

Es dauert etwa eine Stunde, bis die Zusammenhänge klar sind, und je nachdem, ob man vorher eine Inhaltsangabe liest oder nicht, ändert sich die Sichtweise. Wenn man nicht weiß, worum es geht, ist die Spannung größer – und die Freude, wenn man peu à peu von jeder Figur ein bisschen mehr erfährt und über die Zusammenhänge rätselt. War Paul am Anfang nicht mit einer anderen Frau im Bett als mit der, die sich später als seine Ehefrau entpuppt, ihn zuerst verlassen hat, dann aber aus Mitleid zurückkommt und nun, da sie weiß, dass Paul sterben wird, ein Kind von ihm will? Aber warum fährt Paul, offenbar gar nicht so krank, mit der anderen Frau im Auto und zeigt ihr den Mann, den sie umbringen will? Wer die Lösung nicht wissen will, sollte die nächsten Zeilen überspringen. Wer lieber mit den Figuren fühlen und dabei über seine eigene Erfahrungen mit dem Tod nachdenken will, sollte weiterlesen: Cristina ist die Ehefrau von Michael, der von Jack überfahren wird. Sie willigt ein, dass Michaels Herz für eine Transplantation weggegeben wird. Das Herz bekommt Paul, der sich nach der geglückten Operation auf die Suche nach dem Spender macht und so nicht nur zu Cristina findet (und sich in sie verliebt), sondern für sie auch den religiösen Ex-Knacki Jack findet, den Cristina aus Trauer und Wut umbringen will. Dazu kommt es aber nicht, denn am Ende liegt Paul wieder dem Tode nahe im Krankenhaus. Seine Stimme ist es, die erzählt, was es mit den 21 Gramm auf sich hat. Die 21 Gramm, das muss die Seele sein, die so leicht und so flüchtig davon schwebt wie die Schneeflocken in der letzten Einstellung.

Iñárritus Film ist natürlich konstruiert, aber das geht vielleicht auch gar nicht anders bei einem so komplexen Grundthema wie der Frage, inwieweit die Toten, die Todgeweihten und die, die in letzter Sekunde noch gerettet werden, unser Denken und Handeln beeinflussen. Cristina versinkt in der Trauer um ihre tote Familie und wird zur fast in Trance lebenden Frau, die ihre Umwelt nicht mehr wahrnimmt. Bis Paul, der Sterbende, dank der Herztransplantation wieder zu neuem Leben erwacht, sie anspricht und aus der Lethargie reißt. Aber als Cristina den wahren Grund seiner Annäherung erfährt, ist ihre Verzweiflung noch größer. Pauls Ehefrau dagegen findet durch den nahen Tod wieder Zugang zu ihrem Mann, den sie wegen seiner zahlreichen Affären verlassen hat. Jack, der im Gefängnis zum fast schon fanatischen Christen mutierte, stellt sich nicht nur sofort nach seiner Tat, sondern versucht, sich im Gefängnis umzubringen, weil er nicht damit leben kann, am Tod dreier Menschen schuld zu sein. Jacks Ehefrau Marianne dagegen hat kein Verständnis dafür, dass Jack die Sache nicht vertuscht, um weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. Zur inneren Einstellung der Figuren passen die schmutzigen, dunklen Bilder, die vorwiegend mit der etwas unruhigen Handkamera aufgenommen sind, die vielen Zeitsprünge und der trotzdem distanzierte Blick auf die Figuren, der dem Zuschauer viel Freiraum lässt, um an eigene Erfahrungen mit dem Tod zu denken, auch an die Moral, die das eigene Leben bestimmt, und den Glauben. Diesmal gibt es keine so großen optischen und emotionalen Schocks wie bei „Amores perros“; „21 Gramm“ ist durchaus glatter, eben eine Hollywood-Produktion, was aber auch sein Gutes hat, denn Iñárritu hat wunderbare Schauspieler, die den Film fast schon allein tragen: Naomi Watts als drogensüchtige, labile Cristina, Benicio Del Toro als ewiger Verlierer, der auch im Glauben keinen Halt findet, und Sean Penn, der gleich eine ganze Skala verschiedener Charaktere darstellt – vom Kranken, der sich widerwillig mit dem nahen Tod arrangiert, zum überraschend Genesenen, dem die Augen aufgehen über seine egoistische Ehefrau, bis zum tatkräftigen Mann, der neuen Lebensmut schafft und zum abgeklärten Philosophen wird.


Andrea Dittgen