Matthias übernimmt den Stab der KHG-Bibelstaffette mit folgendem
Bibeltext aus Jesaja 59:

2 Nein, was zwischen euch und eurem Gott steht, das sind eure
Vergehen; eure Sünden verdecken sein Gesicht, so daß er euch
nicht hört.

3 Denn eure Hände sind mit Blut befleckt, eure Finger mit Unrecht.
Eure Lippen lügen, eure Zunge flüstert Worte voll Bosheit.

4 Keiner bringt gerechte Klagen vor, keiner hält ehrlich Gericht.
Man stützt sich auf Nichtigkeiten und stellt haltlose
Behauptungen auf; man geht schwanger mit Unheil und bringt
Verderben zur Welt.

5 Schlangeneier brüten sie aus und weben Spinnengewebe. Wer von
ihren Eiern ißt, muß sterben; zerdrückt man eines, kriecht eine
Natter heraus.

6 Die Fäden, die sie spinnen, taugen nicht zu Gewändern, man kann
sich nicht bekleiden mit dem, was sie erzeugen. Ihre Taten sind
Taten des Unheils, Gewalttat ist in ihren Händen.

7 Sie laufen dem Bösen nach, schnell sind sie dabei, unschuldiges
Blut zu vergießen. Ihre Gedanken sind Gedanken des Unheils,
Scherben und Verderben sind auf ihren Straßen.

8 Den Weg des Friedens kennen sie nicht, auf ihren Spuren gibt es
kein Recht. Sie gehen krumme Pfade; keiner, der ihnen folgt,
lernt den Frieden kennen.

9 Darum bleibt das Recht von uns fern, die Gerechtigkeit erreicht
uns nicht. Wir hoffen auf Licht, doch es bleibt finster; wir
hoffen auf den Anbruch des Tages, doch wir gehen im Dunkeln.

10 Wir tasten uns wie Blinde an der Wand entlang und tappen dahin,
als hätten wir keine Augen. Wir stolpern am Mittag, als wäre
schon Dämmerung, wir leben im Finstern wie die Toten.

11 Wir brummen alle wie Bären und gurren wie Tauben [Äußerungen der
Trauer, m.k.]. Wir hoffen auf unser Recht, doch es kommt nicht,
und auf die Rettung, doch sie bleibt uns fern.

12 Denn unsere Frevel gegen dich sind zahlreich, unsere Sünden
klagen uns an. Wir sind uns unserer Vergehen bewußt, wir kennen
unsere Schuld:

13 Untreue und Verleugnung des Herrn, Abkehr von unserem Gott.
Wir reden von Gewalttat und Aufruhr, wir haben Lügen im Herzen
und sprechen sie aus.

14 So weicht das Recht zurück, die Gerechtigkeit bleibt in der
Ferne. Die Redlichkeit kommt auf dem Marktplatz zu Fall, die
Rechtschaffenheit findet nirgendwo Einlaß.

15 Jede Redlichkeit wird vermißt, wer das Böse meidet, wird
ausgeraubt. Das hat der Herr gesehen, und ihm mißfiel, daß es
kein Recht mehr gab.

16 Er sah, daß keiner sich regte, und war entsetzt, daß niemand
einschritt. [...]


~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

"Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über
Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein
Schweigen über so viele Untaten einschließt!"

(Bertolt Brecht)

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


Ich habe in meinem Leben noch keine anderen Zeiten erlebt. Momente
des Glücks und der Freude brauchen im Grunde das Vergessen. Ich habe
mich selten als "Verbrecher" empfunden, aber die Zerrissenheit der
Welt wird mir doch hin und wieder bewußt, und ich frage mich: Darf ich
mit Genuß essen, wissend, daß täglich 30000 Menschen verhungern? Wie
kann ich spielen, lernen, lieben, lachen, philosophieren, während
andernorts Menschen gefoltert, ermordet, von Bomben zerfetzt werden?

"... und doch esse und trinke ich.", stellt Bert Brecht später fest,
aber es ist klar: Solange die Freude an der Schönheit der Schöpfung
durch Hunger, Gewalt und Krieg getrübt ist, sind wir weit entfernt
von den Verhältnissen, die in der Bibel "Schalom" oder "Ewiges Leben"
bzw. "Leben in Fülle" genannt werden; weit davon entfernt, den
Schöpfer von "Angesicht zu Angesicht" zu sehen.

Mit Blick auf die aktuelle britisch-amerikanische Invasion im Irak,
schien es mir unpassend, einen "erbaulichen" Text auszuwählen oder
gar vom "Reich Gottes" zu träumen. Man kann ja leider so schlecht
wegsehen, wenn das Unrecht in den Medien so vordergründig inszeniert
wird... Beim "Blättern" in meiner Computer-Bibel blieb ich zufällig
bei dem Jesaja-Text hängen, der scheinbar heillose Zustände beschreibt
und anklagt. Er klingt für mich, wie für diese Zeit geschrieben...
Ich habe die Passage allerdings etwas aus dem Kontext gerissen, denn
die Anklage mündet eigentlich in die frohe Prophezeiung, daß (da ja
sonst keiner "einschreitet") Gott selbst schließlich die Dinge in die
Hand nehmen wird und "wie ein reißender Strom" Gerechtigkeit und
Wohlstand für sein Volk wieder herstellen wird.

Aber ich kann nicht mehr an diese Art göttlichen Handelns glauben.
Gott greift nicht von außen ein, sondern kann/will nur in den Herzen
der Menschen wirken. Wie sehr wünschte ich mir, daß die Kriegshetzer
während ihrer ekelhaften Fernsehansprachen vom Blitz getroffen werden!
Und warum hemmt Gott nicht die Zünder der Bomben, wie damals die Räder
der ägyptischen Wagen, und warum "wirft" er die Kampfflugzeuge nicht
einfach "ins Meer", wie damals "Rosse und Reiter"?
Was kann denn heute noch die Hoffnung nähren, daß einst "Schwerter zu
Pflugscharen" geschmiedet werden? Wie könnten aus den weltweiten
Kriegsmaschinerien jemals Werkzeuge des Friedens werden?...

Die neoliberale Ideologie wuchert in allen Gesellschaftsbereichen; die
Umweltzerstörung schreitet voran; die Schere zwischen Arm und Reich
öffnet sich immer weiter; das Völkerrecht wird mit Füßen getreten...
Wenn man sich heute ernsthaft politisch engagiert, ist man schnell
gefährdet, in Resignation, Haß oder Zynismus zu fallen. Während man
an einer Stelle beginnt, etwas aufzubauen, muß man hilflos zuschauen,
wie an vielen anderen Stellen skrupellos zerstört wird. Man fühlt sich,
wie Sisyphos, um ein besseres Leben betrogen, das ganz offensichtlich
möglich wäre, gezwungen zu einem sinnlosen Kampf, von Gott verlassen...

Die Begegnung mit integeren, mutigen, konsequenten Menschen hilft mir,
nicht den Glauben zu verlieren. Bei der Kerzen-Nachtwache vor der
Stiftskirche am letzten Samstag lernte ich z.B. einen kolumbianischen
Studenten kennen, der mit Frau und Kind bis zum nächsten Morgen
ausgehalten hat. Er erzählte mir, daß in seiner Wohnung wenn nötig
auch Platz für amerikanische Deserteure sei, denn dieser Krieg sei
ein Verbrechen. Ich wies ihn darauf hin, daß er trotzdem mit ernsten
Konsequenzen rechnen müsse. Das sei für ihn kein Problem, denn er
sei Christ, und er berief sich auf Thoreau, der vertrat, daß in
Zeiten eklatanten Unrechts der angemessene Platz für einen gerechten
Menschen das Gefängnis sei. Diese Entschiedenheit hat mir imponiert
und mich neugierig gemacht, ein bißchen bei Thoreau zu lesen...


~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

"Der Mensch ist nicht unbedingt verpflichtet, sich der
Austilgung des Unrechts zu widmen, und sei es noch so
monströs. Er kann sich auch anderen Angelegenheiten
mit Anstand widmen; aber zum mindesten ist es seine
Pflicht, sich nicht mit dem Unrecht einzulassen, und
wenn er schon keinen Gedanken daran wenden will, es
doch wenigstens nicht praktisch zu unterstützen."

(Henry David Thoreau)

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


Dem kann ich im Prinzip zustimmen, aber bin ich nicht gefangen in den
Zwangsstrukturen des Gesellschaftssystems, in dem ich lebe? Wie kann
ich z.B. "meiner" Regierung, die den Krieg indirekt unterstützt, und
selbst Schritt für Schritt eine Interventionsarmee aufbaut, meine
Unterstützung entziehen? Müßte ich z.B. nicht die Zahlung von Steuern
verweigern? Thoreau hatte dies tatsächlich gemacht und hat dafür lange
Zeit im Gefängnis gesessen!...

"Wir tasten uns wie Blinde an der Wand entlang und tappen dahin, als
hätten wir keine Augen" - So orientierungslos sich diese Zeit auch
darstellt, zum Glück findet man, wenn man sich am Puls des Widerstands
bewegt, auch Hoffnungszeichen: Einzelne, die Fragen stellen, Position
beziehen und versuchen, konsequent ihre Ideale zu leben; Menschen die
in kleinen Gruppen die herrschenden Ideologien hinterfragen; Gruppen,
die sich vernetzen und gemeinsam handeln; Netzwerke, die riesige
Sozialforen veranstalten und "von unten" mit langem Atem und Gottes
Hilfe vielleicht irgendwann die "Mächtigen vom Thron" stürzen können.

Vielleicht hatte Nietzsche irgendwie recht, als er den Tod Gottes
diagnostizierte. Doch wir Christen leben schließlich nicht zuletzt
von der Auferstehungshoffnung. Vielleicht kann er ja wieder zum Leben
erweckt werden (Nietzsche spekulierte, daß er sich möglicherweise
nur "häute")? Vielleicht macht es Sinn, die Dinge so zu sehen, daß
Gott momentan sehr auf uns angewiesen ist, eine lange Zeit der
Rehabilitation im geschützten Raum (z.B. in Friedensgebeten) braucht,
damit er eines Tages wieder "machtvolle Taten" vollbringen kann...


~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

"Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter.
Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine
Ernte auszusenden. Geht! Ich sende euch wie Schafe
mitten unter die Wölfe." (Lk 10, 2-3)

~~~~~~~~~~

"Selig, die Frieden stiften, denn sie werden
Kinder Gottes genannt werden." (Mt 5, 9)

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


Damit gebe ich den Stab weiter an Alexander Friedrich...


Gruss

Matthias


P.S.: Das Gedicht "An die Nachgeborenen" von Bert Brecht, aus
dem die Zitate stammen, findet sich vollständig unter:
http://user.online.be/cd02251/bertolt_brecht.htm

Empfohlen sei auch das originelle Büchlein von Henry
David Thoreau "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen
den Staat" (1849!), das sich im Volltext findet unter:
http://n.ethz.ch/student/njoos/ungehorsam.pdf