Die unbarmherzigen Schwestern
Rose hat ein uneheliches Kind zur Welt gebracht, ebenso wie Crispina. Beiden werden die Kinder gleich nach der Geburt abgenommen. Margaret ist von ihrem Cousin sexuell belästigt worden, und Bernadette sieht einfach nur zu gut aus, als dass sie ein tugendhaftes Mädchen sein könnte. Die vier jungen Frauen leben im Irland der 60er-Jahre, und da Irland das Süditalien Westeuropas ist, gelten ihre Erlebnisse, ob sie selbst daran schuld sind oder nicht, als besonders schlimme Vergehen, so wie alles, was mit Sexualität zu tun hat. In einer der ersten Szenen bildet Regisseur Peter Mullan das gesellschaftliche Netz, das sich um die Mädchen zusammen zieht, auf meisterhafte Weise ab. Auf einem Hochzeitsfest wird getanzt, geschaut und getuschelt. Viele Minuten lang ist unter der folkloristischen Tanzmusik kein einziges Wort zu verstehen. Währenddessen fixieren immer mehr Gäste Margaret, mit spürbarer Abscheu im Blick. Auf diesem Fest beginnt ihr Weg in ein lange Jahre loderndes Fegefeuer, denn hier beschließen ihre Angehörigen, die gefallene Tochter abzuschieben. Genauso verfahren auch die Verwandten der anderen Mädchen. Praktischerweise steht für derartige Fälle weit außerhalb des Ortes der Orden der Magdalenen-Schwestern zu Verfügung, der eine Art Erziehungsheim für angeblich sündhafte Frauen betreibt. Nach außen hin eine Wäscherei, die nach marktwirtschaftlichen Regeln funktioniert, ist das Heim tatsächlich ein veritables Frauengefängnis, in dem nach allen Regeln der Kunst erniedrigt, bestraft und ausgebeutet wird. Mullan lässt gleich zu Beginn seines Films keinen Zweifel daran, dass die kirchliche Institution des Magdalenen-Ordens von einer rigiden und prüden Gesellschaft für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. Als wollten sich die Familien Irlands gegenseitig in ihrer Tugendhaftigkeit übertreffen, trennen sie sich eilig von allem, was auch nur den Verdacht von moralischer Verwerfung wecken könnte, auch von den eigenen Töchtern. Wie befleckt ihre weißen Westen in Wahrheit sein konnten, zeigte Sam Mendes’ „Road to Perdition“ (fd 35 578) über eine vom organisierten Verbrechen beherrschte irische Gemeinschaft in der Neuen Welt. Umgekehrt ist der Einfluss des Katholizismus auf diese Gesellschaft nicht zu überschätzen. Die Diskussion, welche Seite die andere stärker beeinflusst, führt Mullan nicht aus. Schon allein deshalb, weil er diesen Zusammenhang immerhin andeutet und damit der Kirche als solcher die Schuld gar nicht gibt, ist der Skandal um den Film, den der Vatikan nach Mullans Gewinn des „Goldenen Löwen“ 2002 in Venedig entfachte, schwer zu verstehen. Oft genug hatte man Filme über die beklemmenden Zustände in religiös-restriktiven Gesellschaften gesehen. Vielleicht wurde darin die Kirche allgemeiner angesprochen. Jetzt, da die Protagonisten von Unterdrückung und Bigotterie beim Namen genannt werden, ist der Teufel los. Dabei war es höchste Zeit dafür, denn die Wäschereien der Magdalenen-Schwestern existierten bis in die 90er-Jahre, und das nicht nur in Irland und Großbritannien, sondern etwa auch in Australien. Die Zustände, die Mullan beschreibt, weisen auf eine Missdeutung des Begriffs der Moral hin, der alle restriktiven Gesellschaften, vergangene wie gegenwärtige, kennzeichnet: eine Art Fundamentalismus, der sich im Grunde gegen alles Individuelle und alles Fortschrittliche richtet. Auf der Seite der Magdalenen-Schwestern fördert dieses System alle schlechten Charaktereigenschaften des Menschen zutage, von Machtmissbrauch über Sadismus bis zu reiner Geldgier. Die Strafen für geringste Vergehen sind willkürlich und hart, die lustvolle Erniedrigung ist erschreckend, etwa, als die Mädchen sich nackt aufreihen und die Vor- und Nachteile ihrer Körper miteinander vergleichen müssen. Die Äbtissin ihrerseits liebt es, die Einnahmen aus der Wäscherei zu zählen und in Blechdosen zu verpacken. So wie jedes filmische Pamphlet ist auch Mullans Film eine subjektiv gefärbte Schwarz-Weiß-Malerei. Aber es hätte wenig Sinn gemacht, etwa positive Gegenbeispiele vorzuführen. Hierfür sind andere Filme zuständig, wie etwa „Die Glocken von St. Marien“, den die Heiminsassen vorgeführt bekommen, sehr zum Gefallen der Äbtissin, die sich von der rührigen Ingrid Bergman trefflich dargestellt fühlt. Unbeirrt beschreitet Mullan, der vor allem als Schauspieler in Ken Loachs „My Name is Joe“ (fd 33 480) bekannt wurde und auch hier eine kleine Rolle spielt, seinen Weg der radikalen Kritik an den Heimen. Die filmische Brillanz und die Geschlossenheit seines Werks sind beeindruckend: die düstere, fast monochrome Farbgebung, die knappen Dialoge, die Leistung der Schauspieler. Der Film – Mullans zweiter nach „Orphans“ (fd 34 166) – beschränkt sich auf die Perspektive der vier Mädchen, die in der Gefangenschaft zusammen finden. Allerdings fördert die Unterdrückung selbst unter ihnen gegenseitiges Misstrauen, sodass die Einsamkeit auch im gemeinsamen Schlafsaal enorm ist. Zudem glauben die meisten der Mädchen an das Wertesystem, das sie misshandelt, was das Gefühl der Ohnmacht noch vergrößert. Dieses Gefühl spürbar zu machen, ist ein Hauptverdienst des Films. Es ist eine Ohnmacht nicht nur vor der kirchlichen Institution, sondern auch vor der Gesellschaft, die diese nach Gutdünken handeln lässt.
Oliver Rahayel